Uckermärkische Literaturgesellschaft e.V.
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Preisträger 2020

Im Jahr 2020 wurde der Ehm Welk-Literaturpreis an Munir Alubaidi für die satirische Geschichte "Die Kuh, die das Bild des Präsidenten fraß"  und an Sandra Gugic für ihren Beitrag "Wachen" vergeben.

 

Die Kuh, die das Bild des Herrn Präsidenten fraß


Munir Alubaidi

 

(Diese Geschichte ist durch die schamlose Tat einer Kuh aus Fleisch und Blut inspiriert.)


Im Orient lassen die Kuhbesitzer ihre Kühe durch die Straßen der Dörfer wandern und selbst ihre Nahrung finden. Hier sind die Kühe nicht heilig, wie sie es in Indien sind. Sie genießen aber großen Respekt.
Vor Tausenden von Jahren domestizierten Menschen Rinder und betrachteten sie seitdem als Familienmitglieder. Sie ließen sie sogar in ihren eigenen Häusern leben. Die Tiere, die den Menschen Nahrung schenkten, wurden im Laufe der Zeit heilig. Zumindest erlangten sie eine ehrwürdige Position.
Trotz des Respekts müssen die Kühe sich selbst ernähren. Ihr Futter besteht aus Melonenschalen, Gurken und anderen Resten von Früchten und Gemüse, die von den Dorfbewohnern in den Müll geworfen werden.
Während der Wanderung finden die Kühe auch frisches Gras. Allerdings nur im Frühling. Noch bemerkenswerter ist, dass die Kühe wissen, wann und wie sie heimkehren müssen. Bei Sonnenuntergang gehen alle Kühe nach Hause und sind bereit, am nächsten Tag der Familie Milch zu schenken.
Eines Tages jedoch kehrte eine Kuh nicht nach Hause zurück. Im Haus des Kuhbesitzers wuchs die Sorge. Alle Mitglieder der großen Familie befanden sich in einer angespannten Situation. Der Kuhbesitzer ging zu den Nachbarn und fragte sie, ob jemand die Kuh gesehen hätte oder irgendwelche relevanten Nachrichten mitteilen könne. Als niemand behilflich sein konnte, wendete er sich an die Soldaten am Kontrollpunkt und fragte sie. „Bitte, hat jemand von Ihnen meine Kuh gesehen?“
Das Haus, in dem der Kuhbesitzer, seine Familie und die Kuh wohnten, lag in der Nähe eines Kontrollpunkts an einer Hauptstraße, die zur Hauptstadt führte. Hier neben dem Kontrollpunkt standen stolz, hoch und breit zwei Bilder des Herrn Präsidenten. Sie waren auf zwei große Leinwände gemalt worden und bedeckten beide Seiten einer sehr großen Wand. Sie empfingen die Fahrgäste aus beiden Richtungen und erinnerten an die unnachgiebige und unerschöpfliche Macht des Herrn Präsidenten.


In ein Blumenbeet am Fuße der Bilder des Präsidenten wurden Blumen und Pflanzen eingesetzt. Sie sahen in dieser öden Umgebung so verführerisch aus, dass keine Kuh widerstehen konnte, diese Pflanzen und Blumen zu fressen, selbst wenn die Kuh, sehr diszipliniert war. Und so kam die Kuh zum Blumenbeet und fraß die Pflanzen und Blumen, die das Bild des Präsidenten umgaben.
Die Soldaten des Kontrollpunkts stammten aus den Dörfern der Umgebung und sie mochten die Kühe. Trotzdem konnten sie die Tat dieser Kuh, die das Prestige des Machtsymbols berührte, nicht tolerieren und mussten die Kuh daher festnehmen.
Der Unteroffizier beantwortete die Frage des Kuhbesitzers nicht. Stattdessen fragte er den Mann mit scharfem Ton: "Sind Sie der Besitzer dieser Kuh?“
Eingeschüchtert bestätigte der Mann: „Ja, das bin ich. Haben Sie sie gesehen?“ Als er sah, wie der Unteroffizier ihn schweigend anstarrte, fügte er hinzu: „Habe ich oder meine Kuh etwas Falsches getan?“
„Ja, die Kuh hat einen schweren Fehler begangen, eher noch ein Verbrechen! Sie wurde in Untersuchungshaft genommen und Sie als Inhaber dieser Kuh sind mitschuldig und müssen auch verhaftet werden.“ Der Unteroffizier erklärte dem Mann nicht, was die Kuh getan hatte und befahl den Soldaten, ihn festzunehmen. Erst am Abend erzählte ihm ein Soldat die Geschichte der Kuh.
Einen Tag später wurde der Mann freigelassen. Als Analphabet setzte er anstatt der Unterschrift seinen Fingerabdruck auf den Vordruck. Damit verpflichtete er sich, seine Kuh weit weg von Gemeineigentum zu halten, sonst müsse er die Konsequenzen tragen. Bedeutender noch war: Er würde seine Kuh vor Gericht bringen müssen, falls der Untersuchungsrichter entscheiden sollte, dass die Kuh und deren Besitzer, die Gesetze verletzt hatten.
Nachdenklich lief der Mann nach Hause. Wie konnte er seine Kuh wandern und fressen lassen, ohne die Grenzen zu überschreiten und ohne das Prestige des Staates zu berühren? Er verfluchte die Kühe und ihre Dummheit und wie sie all das taten, was ihnen in den Kopf kam, ohne im Geringsten an die Konsequenzen zu denken. Währenddessen lief die Kuh neben ihm, kaute etwas im Mund und schaute sich die Umgebung mit großen, unschuldigen Augen an - ohne jegliche Spur von schlechtem Gewissen oder Reue. Sie wusste nicht einmal, dass sie endlich frei war, denn sie fühlte keinen Unterschied zwischen Haft und Freiheit.


Der Inhaber eines Tieres ist gesetzlich verantwortlich, wenn sein Tier die Privat- oder das Gemeineigentum beschädigt. Falls sich die Tat des Tieres gegen ein Symbol der Nation richtet, sind die Konsequenzen erheblich strenger und natürlich strafbar. Eine Entschädigung ist in solchen Fällen nicht ausreichend, da die Tat eine politische Seite hat.
Wie erwartet, bekam der Mann nach ein paar Tagen ein Schreiben vom Staatsanwaltsamt. Ihm wurde mitgeteilt, dass er bezüglich der Tat der Kuh an einem festgelegten Termin vor Gericht zu erscheinen hatte. Die Tochter des Mannes las das Schreiben vor. Als er den Inhalt des Schreibens gehört hatte, geriet er in Panik. Zitternd und ratlos sagte er: „Ich weiß nicht, was ich tun soll.“
„Einen guten Rechtsanwalt finden.“, sagte die Tochter.
….…
“Das Bild des Präsidenten hat die Kuh aber nicht gefressen. Stimmt das?”
“Nein, nein! Ich meine nicht ganz! Sie hat eigentlich nur ein kleines Stück von der Leinwand, auf der die Auszeichnungen gemalt sind, gefressen.”
„Fein! Trotzdem dürfen wir keine Wunder erwarten.“, sagte der Strafverteidiger.
Am Tag des Prozesses verlas der Staatsanwalt den Anklagesatz, in dem es hieß, die Kuh und demzufolge ihr Besitzer hätte ein ernsthaftes Verbrechen begangen. „Kühe fressen normalerweise keine Textilien. Der Fall, der vor Gericht gebracht wurde, beweist somit in gewisser Weise, dass die Kuh es darauf abgezielt hat, das Prestige des Staates und das Symbol der Nation zu zerstören.“ Er fügte hinzu: „Es erinnert mich an mehrere Zeitungsartikel, die darüber berichteten, wie die Geheimdienste verschiedener Länder, Tiere trainieren, damit diese besonderen Aufgaben erfüllen können.“
Erneut erfasste den Besitzer der Kuh Panik. Inzwischen schaute seine Kuh sorglos auf die Zuschauer im Gerichtsaal, ohne die drohende Katastrophe zu erahnen.
Der Strafverteidiger forderte, die Sitzung zu verschieben. Er beabsichtigte, nach Beweisen zu suchen, die belegen konnten, dass alle Kühe Textilien fressen, insbesondere wenn sie aus natürlichem Material hergestellt worden sind. „Leinwände werden normalerweise aus Leinen produziert.“
Trotz seines erschöpften Gedächtnisses, das hauptsächlich durch eine undisziplinierte Kuh verursacht wurde, konnte sich der Kuhbesitzer an den Fall Alis erinnern.
Ali, der allen Bewohnern seines Dorfes aus einem unerklärbaren Grund bekannt war, arbeitete als Arzthelfer in einem anderen, weit entlegenen Dorf. Als er sein Heimatdorf an einem Wochenende besuchte, erzählte er mit einer Mischung aus Trauer und Zufriedenheit, wie eine Kuh das Haus, in dem er mit anderen wohnte, betrat und die Hälfte seiner Jacke fraß. Er hatte die Jacke an der Wand aufgehangen, um auf die Toilette zu gehen. Seine Zufriedenheit hatte einen Grund: in der Tasche der Jackenseite, die nicht von der Kuh gefressen worden war, befand sich das Gehalt eines ganzen Monats. Das war nicht mit dem Verlust einer alten Jacke zu vergleichen, die er in einem Gebrauchtwarenladen gekauft hatte.
Der Kuhbesitzer erzählte seinem Anwalt, was Ali passiert war. Dieser befand, dass die Geschichte Alis seine Behauptung stützen könnte, alle normalen Kühe fräßen Textilien. Als der Kuhbesitzer und sein Anwalt daraufhin den Arzthelfer Ali kontaktierten und ihm ihre Absicht, ihn als Zeugen vor Gericht aussagen zu lassen, offenbarten, zitterte Ali vor Angst und sagte: “Lasst mich bitte aus der Politik raus! Ich habe nichts mit Politik zu tun.” Wütend erwiderte der Kuhbesitzer: „Ich und meine Kuh haben auch nichts mit Politik zu tun. Willst du mir denn nicht helfen?“
Der Rechtsanwalt entdeckte einen weiteren Fall. Ein Mann namens Salih hatte gesehen, wie eine Kuh ein Stück Zeitung fraß. Erstaunt fragte Salih seine Freunde: „Wie kann aus einer alten Zeitung Milch werden?“ Niemand konnte seine Frage beantworten. Nachdem er so enttäuscht worden war, kam ein alter, weiser Mann vorbei. Salih nutzte die Gelegenheit, ihm dieselbe Frage zu stellen. Der alte Mann antwortete: “Allah kann alles tun und es ist nicht schwer für Gott, eine Kuh das ganze Leben lang ohne Futter zu ernähren und ihr trotzdem Milch zu schenken.”

So fand sich der Rechtsanwalt für die nächste Gerichtssitzung sehr gut vorbereitet. Mit diesen Ereignissen, die von Zeugen bestätigt worden waren, konnte er beweisen, dass die Tat der Kuh nicht von den Geheimdiensten eines befeindeten Landes diktiert wurde, so wie der Staatsanwalt es behauptete, sondern dass es ein normales Verhalten aller Kühe ist. Was blieb, war den nächsten Termin der Gerichtssitzung abzuwarten.
Für den Mann jedoch, der die Kuh besaß, vergingen die Tage sehr langsam. Trotz aller Vorbereitungen fühlte er sich unsicher.

An einem Morgen, die Gerichtsverhandlung hatte noch nicht stattgefunden, wachte der Kuhbesitzer von militärischer Marschmusik auf. Als er das Wohnzimmer betrat, fand er seine Tochter und die ganze Familie wach und um das Radiogerät herumsitzend vor. Früh am Morgen marschierten dutzende Panzer die Straße entlang in Richtung Hauptstadt. Seine Tochter teilte ihm mit, dass es schiene, als ob ein militärischer Putsch stattgefunden hätte und das Schicksal des Präsidenten unbekannt sei.

Zwei Tage danach wurde das Bild des Präsidenten entfernt und das des neuen Präsidenten fest auf dieselbe Wand geklebt. Ein neuer Zaun wurde um das Bild herum aufgebaut. Er war hoch genug, um neugierige Kühe und möglicherweise auch andere unerwartete Kreaturen weit weg vom Bild zu halten, ohne die Sichtbarkeit des neuen Symbols der Nation einzuschränken.
Als die Sperrstunden aufgehoben worden waren, besuchte der Rechtsanwalt den Kuhbesitzer und teilte ihm mit, die Gerichtssitzung sei auf einen unbekannten Termin verschoben worden. Er sagte zu ihm: „Höchstwahrscheinlich wurde die Klage gegen dich und deine Kuh zurückgezogen. Der neue Präsident führte den Putsch, und er ist ein bitterer Feind des alten Präsidenten.”
Für die Feinde und Gegner des alten Präsidenten organisierte der neue Präsident eine Ehrenzeremonie. Der Name des Kuhbesitzers stand auf der Einladungsliste. Auch die Kuh wurde vom neuen Präsidenten als Gegnerin anerkannt. Sein Weitblick umfasste alle Lebewesen, so lange sie den edlen Zielen des neuen Regimes dienten.
Der Mann und seine Kuh erhielten die Einladung des Präsidenten durch den Rechtsanwalt. Am Tag der Ehrenzeremonie wurden sie von eleganten Personen aufgesucht. Mehrere schwarze Luxuslimousinen erschienen vor dem Haus des Mannes, um ihn zum Präsidentenpalast zu bringen. Für die Kuh wurde eigens ein Auto gesandt, das auf den Transport der Präsidentenpferde spezialisiert war. Es war eine große Ehre für Kuh und Mann. Die Familie des Mannes war allerdings stolzer auf die Kuh als auf ihren Vater. Sie wusste, dass ohne die Tat der Kuh, der Vater diese Ehre nicht hätte erwerben können.
In der Ansprache sagte der Präsident: "Heute besucht uns die Elite der Nation im Palast des Volkes, ehrenhafte Frauen und Männern und eine patriotische Kuh. Ich möchte ihnen im Namen der Nation danken."
"Als ich die Entscheidung traf, diese Nation von der Diktatur zu befreien und die Korruption zu beseitigen, war ich mir sicher, dass mehrere treue Mitbürger das gleiche ehrwürdige Ziel verfolgten: die Nation und die Menschen in ein prosperierendes Leben zu führen."
Der Mann erhielt vom neuen Präsidenten eine Ehrenmedaille, seine Kuh eine Ehrenkette, die ihr um den Hals gehängt wurde. Der Präsident sagte zu dem Mann, dass die Kuh ein Nationalvermögen sei und sie daher vom Staat adoptiert werden müsse. „Ab diesem Augenblick sind Sie nicht mehr der Besitzer der Kuh. Sie ist nun Eigentum des Staates. Haben Sie aber keine Sorge! Die Kuh wird bei Ihnen bleiben. Im Namen des Volkes erhalten Sie die Genehmigung, sich um die Kuh kümmern zu dürfen, da Sie die Kuh gut und patriotisch erzogen haben.
Bezüglich der Kosten machen Sie sich auch keine Sorgen. Die zuständigen Behörden haben eine Kopie der Vollmacht an das Agrarsamt in Ihrer Provinz geschickt. Demzufolge erhalten Sie vom Amt finanzielle und materielle Hilfe. Ab heute gehört die Milch der Kuh nicht mehr Ihnen, sondern der Nation. Die zuständige Behörde wird Ihnen in den kommenden Tagen mitteilen, was Sie mit der Milch machen müssen. Als Dankeschön erhalten Sie vom Staat ein entschädigendes Gehalt, da Sie ein Vorbild sind und der Kuh mehr Zeit widmen werden.“
Der Präsident verabschiedete den Mann mit einem freundlichen Lächeln.
Am selben Tag kehrte der Mann nach Hause zurück und wurde von seiner Familie und den Dorfbewohnern triumphierend aufgenommen.
Tage danach fing der Mann an, „sein“ Haus am Kontrollpunkt umzubauen. Es wurde von den Dorfbewohnern nach diesem Ereignis „Das Haus der Kuh“ genannt. Der Mann baute einen großen hellen Raum für die Kuh. Einmal in der Woche kam ein Tierarzt vorbei, um ihre Gesundheit zu kontrollieren. Und jeden Morgen fuhr ein Milchwagen zum Haus der Kuh, um die Milch zu holen und diese an die Kindergärten im Dorf und den Nachbardörfern zu verteilen. Die zuständige Person vom Agrarsamt hatte strenge Anweisungen, der Belegschaft der Kindergärten zu vermitteln, dass die Mich, wenn nicht freiwillig, so unter Zwang von den Kindern getrunken werden sollte. Täglich hatte er von allen Aufsichtsführenden Personen der Kindergärten die Bestätigung zu bekommen, dass die Milch ordnungsgemäß von den Kindern ausgetrunken worden war.

Die Tage des Mannes vergingen wie im Flug, bis eines Morgens militärische Marschmusik ertönte und wieder Dutzende von Panzern und gepanzerten Fahrzeugen in die Hauptstadt einmarschierten.
Einige Tage darauf kam eine Gruppe von Personen zum Kontrollpunkt. Sie entfernten die beiden Bilder des Präsidenten, um zwei andere für den neuen Präsidenten an derselben Stelle zu befestigen. Als die Aufgabe erledigt war, fragte ein Angehöriger der Gruppe: "Wo ist das Haus der Kuh?"


Berlin 13.10.2019

 

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